Während des Schwankens zwischen Erwartung und Zweifel – wann kann der Geist jemals ruhen? … ist meine Übung so, wie sie sein sollte … werde ich je Fortschritte machen … werde ich je die Vollendung meines Tsawa’i Lamas erreichen? Heute ist meine Übung intensiv – morgen ist sie nicht vorhanden – und alles in Abhängigkeit von Launen. Angezogen von angenehmen Erfahrungen, welche konzeptuelle Stile begleiten – jedoch die Übung lieber aufgebend, wenn Namtogs ( rNam tog – das, was im Geist auftaucht ) ungehindert strömen. Das ist keine Art zu üben.
Was auch immer im Geist aufsteigt, wir müssen ein Gefühl dafür erzeugen, Tag für Tag beharrlich zu sein – die Bewegung (gYo ba) der Namtogs zu betrachten, wie sie aus ihrem Ursprungsort auftauchen und dorthin wieder zurückkehren. Es wäre anfangs unvernünftig, zu erwarten, man könnte sofort in der Lage sein, ein fließendes Gewahrsein Tag und Nacht aufrecht zu erhalten – also sollten wir uns in der Praxis entspannen.
Wenn wir anfangen, die Präsenz des Gewahrseins in der Natur des Geistes (sem-nyid – sems nyid) zu finden, sind kurze Übungsphasen – mehrmals am Tag – vorzuziehen. Dann ist es – mit Beharrlichkeit – möglich, einen Blick auf die Natur des Geistes zu erhaschen. Von diesem Zeitpunkt an scheinen uns Namtogs als Referenzpunkte weniger Verlockung zu bieten, und allmählich wird die Realisation an Stabilität gewinnen.
Chöku (chos sKu – Dharmakaya), die Sphäre nichtkonditionierter Potentialität, ist nicht bloßes Nichts. Sie ist von sich heraus mit Erkenntnisfähigkeit ausgestattet im Hinblick auf Erscheinungen. Diese Erkenntnisfähigkeit ist der strahlende, bewußte Aspekt der Leerheit – der spontane Ausdruck der Nichtdualität. Chöku ist somit die ursprüngliche Natur des Geistes, anstelle einer von Ursachen und Umständen erzeugten Erscheinung.
Dies ist die ursprüngliche Natur. Dies zu erkennen bedeutet, dass die aufsteigende Sonne nichtdualen Gewahrseins sich von der Dunkelheit dualistischer Umnachtung abzeichnet. Die Dunkelheit löst sich sofort auf. Chöku ist das unveränderliche Strahlen, das das Zentrum der Sonne ist. Es nimmt nicht zu und ab wie der Mond.
Wenn Wolken aufziehen, ist die Natur des Himmels nicht verdeckt. Wenn Wolken sich auflösen, wird davon die Natur des Himmels nicht aufgedeckt. Der Himmel ist niemals größer oder geringer in seiner Weite (kLong). Er ist unveränderlich wie die Natur des Geistes. Die Natur des Geistes wird durch das Auftauchen von Namtogs nicht befleckt; noch wird sie verstärkt durch deren Auflöung. Die Natur des Geistes ist leer (sTong pa nyid) und ihr Ausdruck ist ungehinderte Klarheit (gSal ba).
Leerheit und Klarheit sind untrennbar – werden jedoch durch zwei Wörter repräsentiert, um die Vielfalt der Natur des Geistes zu beschreiben. Es wäre somit sinnlos, abwechselnd nach Leerheit und Klarheit zu greifen, als ob sie voneinander unabhängig wären. Die Natur des Geistes ist jenseits von Konzepten der Definition und der Auflösung.
Ein Kind könnte verkünden: „Ich kann auf Wolken gehen.“ Würde das Kind jedoch zu den Wolken hochgebracht werden, könnte es nirgendwo einen Ort finden, auf den es seinen Fuß setzen könnte. Genauso scheinen Namtogs, wenn wir nicht ihre Natur betrachten, greifbare Erscheinungen zu sein. Wenn wir jedoch die Natur von Namtogs betrachten, werden wir nichts finden, das solide, permanent, abgetrennt, beständig oder definiert ist. Was auch immer im Geist aufsteigt, ist leere Erscheinung.
Leeres Gewahrsein ist jedoch keine ausdruckslose Erstarrung: es besitzt – von selbst – strahlende Erkenntnis oder nichtduales Gewahsein (rigpa – rig pa).
Leerheit und Gewahrsein können nicht getrennt werden – sie sind untrennbar, wie die Oberfläche des Mélongs (me long; Spiegel) von den Bildern, die im Mélong reflektiert werden. Namtogs tauchen von selbst in der Leerheit auf und lösen sich wieder in die Leerheit auf – so wie ein Gesicht im Mélong erscheint und verschwindet. Das Gesicht hat niemals im Mélong existiert, noch hört es auf zu existieren, wenn die Reflexion nicht mehr sichtbar ist.
Bevor wir uns auf den Weg des Dharma (chö – chos) begeben, leben wir im sogenannten „unreinen“ Samsara (’khor ba), welches – im Hinblick auf seine Erscheinungen – von Nichtgewahrsein (ma-rigpa – ma rig pa) regiert wird. Wenn wir uns dem Dharma widmen, reisen wir in einer Dimension, in der Gewahrsein und Nichtgewahrsein vermischt sind. Im Moment nichtdualer Realisation existiert nur pures Gewahrsein – doch auf unserer Reise zu dieser Realisation erfahren wir den Anschein von Tranformationen. Die Natur des Geistes jedoch hat sich nie gewandelt. Die Natur des Geistes war nicht gefangen, als wir uns auf den Weg gemacht haben, noch wurde sie befreit im Moment der Realisation.
Die unendlichen unbeschreibbaren Qualitäten von kadag gi rigpa (ka dag gi rig pa) – ursprünglichem Gewahrsein – sind dem Geist inhärent. Es ist deshalb nicht nötig zu versuchen, sie zu erschaffen, oder zu versuchen, irgendetwas zu fabrizieren. Übungen der Realisation dienen nur dazu, die Qualitäten von kadag gi rigpa erkennbar zu machen.
Wenn wir die Qualitäten von kadag gi rigpa von einem nicht-dualen Standpunkt aus betrachten, sind diese Qualitäten selbst untrennbar von der Leerheit.
Samsara und Nirvana (’das) sind beide leer, deshalb ist nichts von beidem entweder „schlecht“ oder „gut“ – sie haben in ihrer Natur denselben Geschmack (’khor ’das mNyam pa nyid). Der oder die Tantrika, der oder die die Natur des Geistes realisiert, wird befreit von dem Impuls, Samsara abzulehnen und Nirvana anzunehmen. Ein solcher oder eine solche Tantrika ist wie ein Kind, das die Welt mit unschuldiger Einfachheit betrachtet – ohne Konzepte über Schönheit oder Unansehnlichkeit, gut oder schlecht zu haben. Dieser oder diese Tantrika fällt nicht länger den widersprüchlichen Neigungen – Anziehung, Ablehnung und Gleichgültigkeit – zum Opfer.
Sorgen über die Melodramen des täglichen Lebens haben keinen Sinn. Sich derart unnütz aufzuregen bedeutet, wie ein Kind zu sein, das entzückt ist, wenn es eine Sandburg gebaut hat, und verzweifelt ist, wenn das Meer sie wieder fortspült.
Wenn wir sehen, wie ungeduldig wir danach streben, Schwierigkeiten zu erleben, sehen wir, dass wir wie Motten sind, die sich in die Flamme einer Lampe stürzen. Wir sind willens zu brennen, um das zu bekommen, was wir lieben, und das zu vermeiden, was wir hassen. Es ist für uns besser, solch ausgedachte Bürden abzulegen, als ihnen zu erlauben, uns zu belasten.
Buddhaschaft hat von selbst die Aspekte der fünf Sphären des Seins: Trülku (sPrul sku – Nirmanakaya), der Sphäre der realisierten Manifestation; Longku (longs sKu – Sambhogakaya), der Sphäre der realisierten Erscheinungen; Chöku (chos sKu – Dharmakaya), der Sphäre der unkonditionerten Potentialität; Ngowo-ku (ngo bo sKu – Svabhavikakaya), der Sphäre der Essenzialität; und dorje-ku (rDo rJe sKu – Vajrakaya). Diese können unmöglich außerhalb von dem gefunden werden, was wir bereits sind. Sie sind untrennbar von der Natur des Seins – von der Natur des Geistes. Sobald wir gegenwärtig sind in dieser Erkenntnis – endet die Verwirrung, und es gibt keinen Grund mehr, nach Nichtdualität in Methodologien zu suchen. Der geschickte Navigator, der auf einer Insel von Bord geht, die völlig aus purem Gold besteht, wird darauf unmöglich irgendwo Goldklümpchen finden können, solange seine Erkundung auch dauert – deshalb sollten wir nach Buddhanatur nicht auf diese Weise suchen. Buddhanatur hat schon immer inhärent existiert als die Natur des Geistes.